Nachtwandern
Erkundungen im Dunkeln: an der Nordsee, im Ruhrgebiet und in den Alpen
Unterm Sternenhimmel um Mitternacht
Weshalb ist die Nacht seit jeher eine Projektionsfläche unserer Ängste und Wünsche, für Märchen und Geschichten? Und warum zieht uns die Dunkelheit so magisch an?
Dirk Liesemer wagt sich ein Jahr lang immer wieder in die Einsamkeit der Nacht. Er erkundet das Westhavelland, die dunkelste Region Deutschlands, ebenso wie das Ruhrgebiet, eine der hellsten Gegenden Europas.
Er verfolgt die Weißen Nächte auf Usedom, wandert zu später Stunde während des Opernballs durch Wien und besteigt in der Schweiz einen Berg, um die Schwärze der Nacht kennenzulernen.
Dabei trifft er Märchensammler und Astronomen, Jäger, Esoteriker und Vogelkundler – und berichtet über Lichtverschmutzung, den Tanz der Glühwürmchen und die Stille unter dem Sternenhimmel.
blogeintrag 10 Tipps für eine perfekte Nachtwanderung
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Lesung: Nachtwolken & Amrum
Vorwort aus meinem Buch
Früher, in meiner Kindheit, wenn ich spätabends auf der Wiese vor unserem Haus stand und zum Himmel emporschaute, funkelte und blinkte es überall magisch wie zu Anbeginn der Zeit. Ich wusste, wo der Polarstern leuchtet, wo Orion und Kassiopeia zu finden sind, welche Mondphase als nächste kommen würde und dass sich alles über einem dreht, wenn man nur lange genug das Firmament betrachtet. Der Blick ins dunkle Universum weckte meine Fantasie. Alles war so weit, so schwarz, so offen. Ich liebte die Stille und die Weite des funkelnden Nachthimmels, aber fühlte mich im Angesicht des Weltraums auch verdammt klein.
Ich fürchtete mich zugleich vor der Nacht. Direkt hinter unserem Haus begann ein dichter großer Wald aus Fichten und Tannen. Nachts knackten dort Äste, es raschelte im Laub, Füchse und Rehe trieben sich im Gehölz umher, vermutlich auch Wildschweine. Allein wagte ich mich nicht allzu weit in diese unbekannte, finstere Welt hinein. Ich hatte nicht unbedingt Angst, aber doch allerlei wilde Vermutungen und Hirngespinste, was mir dort widerfahren könnte. Zumal wir Kinder im Wald einmal eine rostige Bärenfalle entdeckt hatten.
Ins Reich der Dunkelheit
Diese Dinge fielen mir wieder ein, als ich mich vor einigen Jahren, mit Ende dreißig, für ein Abenteuermagazin zu einer Nachtwanderung ins Havelland aufmachte. Schon in der späten Dämmerung bemerkte ich, wie sehr ich die Nacht im wahrsten Sinne des Wortes aus den Augen verloren hatte. Dabei machen die dunklen Stunden immerhin die Hälfte eines vollen Tages aus. Im Grunde hatte ich keine Ahnung mehr, wie man sich im Dunkeln orientiert, was um einen herum so alles passiert und welche Tiere welche Geräusche von sich geben. Ich tapste eher hilflos durch die Gegend und fühlte bedrückt, dass ich mich von der Nacht entfremdet hatte.
Je dunkler es an jenem Abend im Havelland wurde, desto deutlicher spürte ich allerdings auch ein angenehmes, elektrisierendes Kribbeln im Körper: Ich war unterwegs, ich war draußen, ich erlebte etwas Neues und fühlte mich dabei ganz wach – denn ich tat gerade etwas, was ich sehr lange nicht mehr gemacht hatte. Es war ein wenig wie ein erstes Mal. Es hatte wieder den Hauch des Besonderen. So betrat ich also eine weithin unbekannte, in Vergessenheit geratene Welt: das Reich der Dunkelheit.
Dass ich von dieser Welt so viel vergessen hatte, empfand ich dabei allmählich immer mehr als eine ideale Voraussetzung, mich ausführlicher mit ihr zu beschäftigen. Zumal ich bald erfuhr, wie gefährdet die Dunkelheit mittlerweile ist – nicht nur in Mitteleuropa.
Man kann diese Art der Themenfindung als zufällig begreifen. Mir gefällt ein anderes Wort besser: Serendipity oder auch Serendiptität. Man streunt umher, folgt der Nase, hält die Augen auf und stößt irgendwann so absichtslos wie zufällig auf dieses oder jenes Thema, von dem man zuvor gar nicht wusste, dass es existiert und einen fesseln könnte. Manchmal beginnt dann eine Geschichte mit einem Wort, einem Gedanken, einer Empfindung oder einer Beobachtung. Mit irgendeinem unscheinbaren Fundstück also, das man am Weg aufliest und so lange im Kopf hin und her wendet, bis daraus mehr wird, eine Idee und schließlich eine Art Konzept.
Zurück am Schreibtisch, begann ich zu recherchieren und mich zu erinnern, um die Facetten der Nacht genauer zu erfassen. Ich bin am Rande eines Dorfes im Eggegebirge in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, wo abends die Straßenlaternen ausgingen und erst früh am nächsten Morgen wieder zu leuchten begannen. Dazwischen herrschte Finsternis. Später ging es fürs Studium in große Städte. Einen wirklich prächtigen Sternenhimmel habe ich dort seither nie erlebt und – wie mir jetzt klar wird – seltsamerweise auch nie vermisst. Dass man noch vor gut hundert Jahren auch über den Metropolen die Milchstraße erkennen konnte, sollte ich erst während meiner Streifzüge für dieses Buch erfahren.
Denkt man als Städter ans Nachtleben, fallen einem beleuchtete Straßenzeilen ein, Kneipen, Cocktailbars und Diskotheken. Die Nacht spielt sich hier nicht über einem, sondern um einem herum ab. Sie reißt einen eher mit, als dass sie einen staunen ließe. Über unseren Städten sind heutzutage höchstens eine Handvoll Sterne auszumachen. In der Regel ist das Firmament trübe, und das Universum entzieht sich dem Blick. Dass die Erde nur eine kleine Kugel in einer grenzenlosen Weite sein könnte, dieser Gedanke kam mir als Kind auf dem Dorf, aber während meiner Jahrzehnte in Großstädten höchst selten. Trotzdem erstaunte mich eine Umfrage, der zufolge nur die wenigsten Jugendlichen wissen, wo sich am Nachthimmel die Milchstraße befindet. Vermutlich ahnen viele nicht, dass man den schmalen Streifen voller Sterne als Milchstraße bezeichnet. Oder sie haben ihn tatsächlich noch nie gesehen, was traurig wäre.
Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde mir, wie sehr uns Menschen die Nacht abhandengekommen ist. Seit der Erfindung der Glühbirne im neunzehnten Jahrhundert wird die Dunkelheit systematisch aus den Straßen, Hinterhöfen und allen schattigen Ecken vertrieben. Allein in Deutschland sollen nachts acht Millionen Straßenlaternen leuchten, in der Schweiz ungefähr siebenhunderttausend, ebenso in Österreich, auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, sondern nur grobe Schätzungen. In allen drei Ländern kommt damit etwa eine Straßenleuchte auf zehn bis elf Menschen. Daneben existieren zahllose illuminierte Denkmäler, Gewerbegebiete, Bahnhöfe und Flughäfen.
Vom Orbit aus betrachtet strahlen vor allem das Ruhrgebiet, die Rhein-Main-Ebene und Metropolen wie Berlin, Zürich und Wien. Einzig in den Hochalpen und im Nordosten Deutschlands herrscht bis heute tiefe Dunkelheit. Nicht nur im Zentrum Europas (hier besonders in den Beneluxländern und im Norden Italiens), sondern auch vielerorts in den Vereinigten Staaten, in Brasilien, Indien, China, Japan und Südostasien wird die Nacht von Jahr zu Jahr immer heller, wie auf Satellitenfotos zu erkennen ist. Sollten Außerirdische unseren Planeten aus großer Ferne beobachten, würde ihnen auffallen, wie die Erde mit jeder Umkreisung um die Sonne an künstlicher Strahlkraft gewinnt.
Unser Planet leuchtet immer mehr wie eine riesige Glühbirne. Unablässig und in nahezu allen Weltgegenden. Er ist längst dabei, seinen Herzschlag zu verlieren, der seit jeher zwischen Hell und Dunkel pulsierte, als müsste es immer so sein. Aber dieses Herz hört nicht etwa auf zu schlagen. Es sieht eher so aus, als wäre ein Schrittmacher implantiert worden, der ständig Energie freisetzt, um alle menschliche Aktivität voranzutreiben. Licht und Finsternis stehen sich längst nicht mehr – wie in den Schöpfungsmythen dargelegt – als zwei gegensätzliche Pole gegenüber. Die Grenzen zwischen Tag und Nacht zerfließen zusehends. Während es tagsüber wie gewohnt sonnenhell ist, herrscht nachts vielerorts eine mal mehr, mal weniger grelle Dauerdämmerung.
Mit der Ausleuchtung unserer Welt sind wir zu Augenmenschen geworden. Es mag etwas weit hergeholt klingen, aber während ich draußen durch die Nacht lief, kam mir zuweilen der Gedanke, dass sich unser nahezu blindes Vertrauen auf die Augen auf die menschliche Sinnsuche ausgewirkt haben könnte. Was soll man vom Unsichtbaren und Jenseitigen halten, wenn alles im Lichte strahlt? Welche letzten Fragen bleiben? Weitverbreitet ist schließlich das Argument, dass man nur an das glaubt, was man auch sieht. Manchmal fragte ich mich auch, ob es nur ein historischer Zufall war, dass die technische Ausleuchtung der Welt und die philosophische Aufklärung nahezu zeitgleich stattfanden. Ich denke nein.
Man muss die Nacht nicht gleich als die letzte große Terra incognita bezeichnen. Doch fremd und unheimlich ist sie uns nicht nur heute, sondern war es auch schon in vergangenen Zeiten. Man muss nur einmal Märchen und Sagen lesen. Im Dunkeln verlieren wir nicht nur schneller die Orientierung, wir spinnen uns auch allerlei seltsame Fantasien zurecht. Manche Menschen fürchten sich schon davor, nachts auch nur hundert Meter allein durch ein Waldstück zu gehen. Ein Naturpädagoge erzählte mir einmal, dass er mit seinen Studenten regelmäßig Experimente durchführt. Nicht wenigen falle es bereits schwer, bei einer gemeinsamen Wanderung eine halbe Stunde lang zu schweigen. Sie ertrügen die Stille und Einsamkeit nicht. Existenziell bedrohlich fühle es sich für sie an, wenn sie im Dunkeln allein durch ein kurzes Waldstück laufen sollen. Sogar wenn klar zu erkennen sei, dass jenseits der Passage eine vertraute Person auf sie wartet, könnten sich manche nicht überwinden.
So sehr sind wir nachts von der Möglichkeit eines Verbrechens überzeugt, dass in der Dunkelheit niemand gern jemanden hinter sich her laufen hört. Wir alle haben dunkle Vorahnungen, was in der Nacht passieren könnte: ein Angriff aus dem Nichts, ein Überfall oder Schlimmeres. Allabendlich werden diese Urängste im Fernsehen durchgespielt. Pünktlich mit der Dämmerung beginnen die Krimis, gefolgt von Horrorfilmen. Immer geht es um die sprichwörtlichen Schattenseiten der menschlichen Existenz. Niemand schaut sich tagsüber solche Filme an. Man müsste das Zimmer abdunkeln, um eine halbwegs schummrige und angemessene Atmosphäre zu schaffen. Während wir positive Begriffe mit Helligkeit verbinden, wird Negatives mit Dunkelheit assoziiert: Jemand ist erleuchtet, jemand anderes umnachtet. Der eine hat ein sonniges Gemüt und einen klaren Verstand, der andere macht eine düstere Miene und ist nicht gerade der Hellste.
Doch wie erkundet man die Nacht? Jene Zeit des Tages also, die uns allen vertraut ist, die wir meist verschlafen und nur selten bewusst wahrnehmen. Anfangs wollte ich eine Wandertour von Hamburg nach Wien unternehmen. Ich wäre ausschließlich nachts gelaufen und hätte mich tagsüber ausgeruht. Vorzugsweise im Frühling oder Herbst, wenn die Nächte lang genug und nicht zu kalt sind. Aber dann hätte ich die Nacht nur zu einer Jahreszeit erlebt und auch viele Regionen und Orte jenseits meines Weges auslassen müssen. Die Nacht, so viel war klar, offenbart sich jedes Mal anders: Je nach Jahreszeit, Mondphase, Wetter, Vegetation und Umgebung erscheint sie mal heller oder dunkler, wärmer oder kühler, feuchter oder trockener. Mal von Sternen übersät, mal von Wolken verhangen, mal in künstliches Licht getaucht. Wie wirken sich all diese Unterschiede auf Menschen, Tiere und Pflanzen aus, auf die inneren Uhren und den Rhythmus des Lebens? Ich wollte es herausfinden.
Statt einer einzigen langen Tour markierte ich auf einer Karte möglichst unterschiedliche Regionen in Deutschland, der Schweiz und Österreich, darunter die Insel Amrum, die Ostseeküste, das Ruhrgebiet, das Erzgebirge, den Schwarzwald, die Silenerberge im Kanton Uri und das Karwendel. Es würde am Meer entlanggehen, an einem Fluss, durch moorige und bergige Landschaften, durch illuminierte Metropolen wie Berlin, Zürich und Wien, an abgelegenen Dörfern vorbei und hinein in finstere Wälder. Es sollte also keine große, zusammenhängende Wanderung werden. Ich wollte stattdessen viele einzelne Streifzüge unternehmen. Mal hier, mal dort, verbunden nur durch das Thema Nacht, geordnet nach dem, was mich als jeweils Nächstes interessierte.
Vor meinem ersten Streifzug war ich nicht frei von Befürchtungen. Alle, denen ich von meinem Vorhaben erzählte, brachten weitere Ängste ins Spiel. Und es kursieren erstaunlich viele. Ich schaute mir zwar keine Verbrechensstatistiken an, aber ich informierte mich über wilde Tiere und erfuhr, dass Wölfe grundsätzlich scheue Tiere sind. Hin und wieder reißen sie zwar Schafe und geraten dabei in einen Blutrausch, aber seit ihrer Wiederansiedlung ist hierzulande noch kein Mensch attackiert worden. Als aufrecht gehende Zweibeiner, heißt es, zählen wir nicht zu ihrer Beute. Allerdings gibt es historische Berichte von Angriffen, die in Kirchenchroniken des achtzehnten Jahrhunderts verzeichnet sind. Derartige Attacken gelten jedoch als absolute Ausnahmen, die nur in Hungerwintern stattfanden.
Ich beschloss, mich nicht vor Wölfen zu fürchten. Viel gefährlicher sind ohnehin Zecken und Wildschweine, Letztere vor allem im Frühling, wenn sie Junge zur Welt gebracht haben. Sollte ich ihren Weg kreuzen und mich falsch verhalten, könnte ein Angriff höchst brisant bis tödlich verlaufen. Gegen die von Zecken übertragenen Krankheiten ließ ich mich impfen, gegen die Wildschweine besorgte ich mir Pfefferspray, das mir jedoch kein Gefühl von Sicherheit vermittelte und alsbald in einem Schrank verschwand. Es hätte mir vermutlich ohnehin nicht viel geholfen.
Überhaupt schleppte ich stets nur wenig in meinem Rucksack mit mir herum, etwas zu trinken und zu essen, meine Kamera samt Stativ und ein Diktiergerät. Eine Stirnlampe wollte ich nur im Notfall verwenden. Schließlich ging es in diesem Jahr darum, die Dunkelheit zu erkunden und dabei zu lernen, sich auch wieder mithilfe der Ohren, der Nase und des Tastsinnes zurechtzufinden. Wie also sieht die Nacht aus, wie orientiert man sich, und wie ergeht es einem, wenn man nichts mehr oder nur sehr wenig erkennt? Ich versuchte, mich an meine Kindheit zu erinnern, aber sie war ja schon so lange her. Wie ein Analphabet musste ich alles wieder von Neuem lernen.
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